Trennungskinder: Gleich viel Zeit bei Vater und Mutter? – die “Doppelresidenz”
Ein Kind hat das Recht auf beide Elternteile und das geht am besten über zwei Hauptwohnsitze. Anton Pototschnig im Interview mit Christina Luef.
Was ist unter dem Begriff „Doppelresidenz“ zu verstehen und was ist das Anliegen der Plattform „Doppelresidenz“?
Anton Pototschnig: Doppelresidenz bedeutet, dass Kinder von getrennt lebenden Eltern bei Vater und Mutter den Alltag erleben können, also möglichst gleich viel Zeit bei Vater und Mutter verbringen und das Sorgerecht bei beiden liegt. Das Anliegen der Plattform ist es, diesbezüglich ein anderes Bewusstsein zu etablieren, indem die Vorteile dieser Regelung für das Kind und die Eltern sichtbar gemacht werden. Ziel ist es, die Doppelresidenz, wie in Belgien, als prioritäres Modell in der Gesetzgebung zu etablieren.
Warum ist aus Sicht des Kindes die Möglichkeit so wichtig, bei beiden Elternteilen zu gleichen Teilen aufzuwachsen?
Kinder wollen nach der Trennung bzw. Scheidung möglichst viel Kontakt zu Mutter und Vater haben und eine konfliktfreie Atmosphäre zwischen den Eltern erleben. Studien zu Trennungs- und Scheidungskindern kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass sich viel Kontakt zu beiden Elternteilen und Alltagsbezug positiv auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Die Doppelresidenz schafft dafür die besten Voraussetzungen.
Welche Gefahren könnte ein doppelter Hauptwohnsitz für ein Kind bergen?
Nicht alle Kinder könnten mit zwei Hauptwohnsitzen gleich gut zurecht kommen. Das Gefühl des Entwurzeltseins könnte sich einstellen. Beachten muss man dabei aber, dass sich Kinder in sehr starken Loyalitäten befinden. Intensive Beratung und Begleitung der Eltern nach der Trennung sollten besonders im Konfliktfall unerlässlich sein.
Wie funktioniert das Modell „Doppelresidenz“ in der Praxis?
Es gibt verschiedenste Regelungen: eine Woche bei der Mutter, eine Woche beim Vater oder drei Tage hier, vier Tage dort; an den Wochenenden alternierender Aufenthalt bei Mutter und Vater und unter der Woche täglich abwechselnd oder monatlich dem Dienstplan angepasste Übergaben. Die Übergabe kann ausschließlich über Institutionen (Kindergarten oder Schule) oder direkt erfolgen. Wichtig ist, darauf zu reagieren, wenn es für die Kinder nicht mehr stimmig ist.
Kann das Modell auch funktionieren, wenn die Eltern nach der Trennung bzw. Scheidung in unterschiedlichen Orten leben?
Erfahrungen zeigen, dass die Doppelresidenz auch dann funktionieren kann, wenn Eltern an unterschiedlichen Orten leben. Wichtig ist, dass Schule und Kindergarten gut erreichbar sind und Freundschaften auf beiden Seiten gepflegt werden können. Auch bei aufrechter Ehe besuchen Kinder oft die „beste Schule“ weit vom Wohnort entfernt. Es gibt Schulfreunde und die Freunde von zu Hause. Wichtig ist auch, hier wieder „nahe am Kind“ zu sein, Bedürftigkeiten und Nöte wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Doppelresidenz ist kein Dogma, sondern eine Chance für alle Beteiligten.
Welche Probleme könnten bei der Umsetzung des Modells auftauchen und wie könnte man diesen begegnen?
Es könnte zu Streitigkeiten und Spannungen direkt bei der Übergabe kommen. Die Alternative dazu wäre eine Übergabe nur über Institutionen.
Das Hin- und Hertransportieren der vielen Sachen, die das Kind benötigt, könnte wegfallen, wenn das Auto mit allen wichtigen Dingen jeweils jener Elternteil hat, der das Kind bei sich hat.
Das Kind kommt von einem Elternteil ständig mit verschmutzter Kleidung zurück. Eine Lösung dafür wäre, dass das Kind bei jedem Elternteil einen eigenen Kleiderbestand hat.
Eltern haben mit den Kindern meist einen sehr unterschiedlichen Umgang. Was während der Ehe als gut und ergänzend betrachtet wird, wird danach von einem Elternteil oft als negativ empfunden. Die eigene Umgangsart wird zur Maxime erhoben. Die Akzeptanz der Eltern dem jeweilig anderen Elternteil gegenüber ist wichtig. Für die Entwicklung des Kindes ist es von Vorteil. Beratung wäre in diesem Fall angebracht.
Sind Ihrer Meinung nach rechtliche Änderungen notwendig, um die Vorstellungen der Plattform zu unterstützen?
Unbedingt! Die Doppelresidenz ist in Österreich gesetzlich nicht vorgesehen. Selbst bei der Obsorge beider Elternteile ist ein hauptsächlicher Aufenthaltsort nötig. Derzeit kann man diese Regelung nur aufgrund einer privaten Vereinbarung leben. Bei getrennt lebenden Eltern muss entweder einem Elternteil die Obsorge allein zugewiesen werden, oder es muss bei der Obsorge beider Elternteile ein hauptsächlicher Aufenthalt festgelegt werden. Dies hat den Nachteil, dass einerseits suggeriert wird, dieses Modell sei a priori nicht gut fürs Kind, andererseits führt das Ungleichgewicht in rechtlicher Hinsicht vermehrt zu Konflikten. Einem Elternteil wird de facto, nicht de jure, das alleinige Recht übertragen, darüber zu entscheiden ob, wie lange, wie oft, mit wem, in welchen Zeitabständen und wie Besuchskontakte auszusehen haben. Hält sich der Besuchselternteil nicht an dieses Diktat, wird oft mit der Einschränkung oder dem völligen Abbruch der Besuchskontakte gedroht. Dies macht den einen Elternteil zum „Gatekeeper“ und führt zur Infantilisierung des anderen. Ein Machtgefälle gegenüber dem eigenen Kind ist die Folge. Daraus entstehen Kränkungen, Ohnmachtsgefühle und Aggressionen. Durch die derzeitige gesetzliche Regelung werden Konflikte prolongiert und die Gefahr des Rückzugs eines Elternteiles gefördert. Beides – wie bereits erwähnt – Hauptbelastungsfaktoren für das Kind. Deshalb ist es nötig, die Doppelresidenz als prioritäres Modell in der Gesetzgebung zu verankern, von dem nur abgewichen werden darf, wenn sie sich negativ auf das Kind auswirken sollte.
In welchen Bereichen sollte man sonst noch ansetzen?
Man sollte finanzielle Anreize schaffen, um Karenzurlaub (Elternzeit) für beide Elternteile attraktiv zu machen. Generell sollten öffentliche Diskurse, Kampagnen und Bildungsmaßnahmen über die Vater- und Mutterrolle veranstaltet werden mit dem Ziel einer Dekonstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit. Die Errichtung von spezialisierten, gut geschulten und breit gestreuten Beratungseinrichtungen wäre ein weiterer Punkt. Zu guter Letzt müsste zum Thema Doppelresidenz auch mehr geforscht werden.
Anton Pototschnig hat die Plattform Doppelresidenz ins Leben gerufen, nachdem sein Kontakt zu seinem Kind ohne nachvollziehbare Begründung radikal eingeschränkt wurde. Das Online-Portal bietet neben Informationen und Literaturtipps auch die Möglichkeit, eigene Beiträge und Kommentare zum Thema zu veröffentlichen.
Das Interview führte Christina Luef.
Quelle
Dieser Artikel erschien ebenfalls in der Zeitschrift “beziehungsweise”, Ausgabe 05/2008 und ist auch auf familienhandbuch.de abrufbar.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung durch das Österreichisches Institut für Familienforschung.